Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut - WELT

2022-09-03 10:37:03 By : Ms. Judy Chen

D ie Lyrik ist das Mauerblümchen des literarischen Lebens. Als aber vor hundert Jahren, am 11. Januar 1911, in der Zeitschrift "Der Demokrat" zum ersten Mal das Gedicht "Weltende" von Jakob van Hoddis erschien, wurde es sogleich zu einer Sensation. Es muss gleich gezündet haben, viele waren sich augenblicklich sicher, dass da ein neues, nervöses Lebensgefühl gültig formuliert war - das expressionistische.

Einer, der damals dazugehörte und bebende Gedichte voller Ausrufungszeichen ("Berlin! Du weißer Großstadt Spinnenungeheuer! / Orchester der Äonen! Feld der eisernen Schlacht!") schrieb, war Johannes R. Becher, der sich später von seinen literarischen Anfängen distanzierte und am Ende zum Staatsdichter und Kulturminister der DDR avancierte. Doch selbst da noch, vierzig Jahre später, hatte ihn der "Weltende"-Zauber nicht losgelassen: "Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben. Diese acht Zeilen entführten uns. Immer neue Schönheiten entdeckten wir in diesen acht Zeilen, wir sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin, wir gingen mit diesen acht Zeilen auf den Lippen in die Kirchen, und wir saßen, sie vor uns hin flüsternd, mit ihnen beim Radrennen." Als Kurt Pinthus Ende 1919 seine große, auf den Expressionismus schon zurückblickende Lyrikanthologie "Menschheitsdämmerung" herausbrachte, eröffnete er sie mit eben diesen acht Zeilen. Und seit Jahrzehnten wird wohl jede gymnasiale Schulklasse in Deutschland irgendwann mit dem kurzen Gedicht traktiert, das in der Regel als treffende Kritik an einer hybriden Zivilisation gedeutet wird. Dieser Erfolg hat etwas Rätselhaftes. Denn eigentlich geben die hübschen und ein bisschen pubertären Zeilen solchen Überschwang nicht her, dafür sind sie zu schlicht - und auch platt. Aber sie brachten eine Saite zum Schwingen, sie boten sich als Projektionsreservoir an. Es lag etwas in der Luft, als Zeilen wie diese geschrieben wurden. Aber was?

1911 war es noch drei Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Das hat manchen dazu verführt, aus dem Geistesleben der Zeit Vorahnungen und eine untergründige Untergangsstimmung herauszulesen. Gaben die Expressionisten früh das Beben des Vulkans weiter, auf dem sie saßen? Waren sie Propheten und dem gemeinen Mann voraus?

Sie stammten, soziologisch gesprochen, zumeist aus dem Bürgertum, und zwar aus dem aufsteigenden, bei 80 Prozent von ihnen waren schon die Eltern Akademiker gewesen; sie waren um 1910 herum 20 bis 25 Jahre alt, ein Viertel von ihnen hatte promoviert oder war gerade dabei - keine Outcasts also. Es waren (fast) nur Männer, die Zahl der Juden unter ihnen war beträchtlich (in der "Menschheitsdämmerung" zehn der 23 dort versammelten Autoren). Einige von ihnen - Alfred Lichtenstein, Ernst Stadler und Georg Trakl - kamen wenig später im Ersten Weltkrieg um; einige - Becher, Iwan Goll, Else Lasker-Schüler und Walter Hasenclever - wurden später in die Emigration gezwungen oder - wie van Hoddis - von den Nazis ermordet; und andere - Kasimir Edschmid oder Kurt Pinthus - machten Karrieren in dem Gewerbe, das Adorno später verächtlich "Kulturindustrie" nannte.

Sie waren ein agiles Völkchen und durchaus Produkt eben jenes Vereins- und Verbindungswesens, das sie so ablehnten. Und sie waren medial entschiedene Neuerer. Sie gründeten in wilder Folge Clubs, Varietés, Theater, Cafés, Debattierzirkel, Kabaretts - den Ausdruckstanz nicht zu vergessen. Nichts hielt lange, auch deswegen nicht, weil sie vom Spaltpilz befallen waren - Neugründungen waren meist Absetzbewegungen. Van Hoddis etwa vergraulte mit entschlossenem Ingrimm Kurt Hiller, das wichtigste Gründungsmitglied seines Neuen Clubs, der daraufhin einen eigenen aufmachte, den er "Gnu" nannte.

Diese kleinen Zimmerschlachten wurden zwar mit Leidenschaft geschlagen, und es fielen dabei immer die allergrößten Worte: Mensch, Sturm, Zeit, Schlaf, Wolken, Schicksal, Geschrei, Gewehr. Das Ganze hatte aber durchaus etwas Spielerisches, Unernstes, bewusst Forciertes. Es war auch das Spiel verwöhnter, nervöser und gelangweilter junger Leute, die sich im Tabubrechen, im Grenzüberschreiten einen Wettbewerb des Überbietens lieferten. Wenn bei Georg Heym die Meere stocken, hupfen sie bei van Hoddis ans Land. Wenn es bei Alfred Lichtenstein heißt: "Ein Pferdchen stolpert über eine Dame", dann repliziert van Hoddis in seinem Gedicht "Varieté" auftrumpfend: "Es riecht nach Moschus, Schminke, Wein, nach fetten / Indianern und entblößten Weiberfleischen." Da war auch viel unerfahrener, mutwillig die Provokation suchender Pennälerwitz am Werk. Nicht die Zeit war schwül, sondern die Fantasie dieser jungen Männer war es. Erst vor der Folie der kommenden Katastrophen laden sich solche Zeilen im Rückblick zeitdiagnostisch auf.

Noch in einem anderen Sinn waren diese bohemeartigen Männerbünde keineswegs auf die große Zeittragödie abonniert. Lange vor der "Gruppe 47" oder gar "Deutschland sucht den Superstar" beherrschten sie die Kunst der Selbstinszenierung recht gut. Die Expressionisten sind die erste Kunstrichtung, die ihren Gattungsnamen selbst erfunden und propagiert hat - 1911 kam der Begriff auf und setzte sich noch im gleichen Jahr durch: eine mediale Meisterleistung. Die Expressionisten, die bald auseinander laufen sollten, schufen starke Gruppenidentitäten. Neuerer gegen Spießer, Mutige gegen Bürger, stark Fühlende gegen Gefühlserfrorene: In der Abgrenzung lag die Kraft, die Aufsehen erregte. Wie die Subkultur der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts fühlte sich auch diese Subkultur als Avantgarde, wie diese löste sie - teils wider den eigenen Willen - einen Schub von Modernisierung aus.

Man besaß ein eigenes Netz, in Form von Veranstaltungslokalen, aber auch von Zeitschriften, die erstmals lustvoll Text und Bild kombinierten, neue Typografien erprobten und überhaupt mit den Formen spielten. Diese exaltierte Boheme war geistesaristokratisch, doch modern genug, das hehre Ideal des einsamen Künstlers zu verabschieden. Die meisten Expressionisten waren Vortragskünstler, gingen auf die Bühne, stellten sich der Öffentlichkeit, inszenierten sich, bis in exzentrische Kleidung hinein, selbst oder waren - wie van Hoddis - Conférenciers und Geschäftsführer in einer Person. Zwar grenzte man sich dünkelhaft vom "Spießer" ab, Kurt Hiller schrieb: "Der literarische Künstler hat geradezu die Aufgabe, so zu schreiben, dass die Müllers und Schulzes ihn nicht begreifen können." Doch zugleich war man - wie der Protest der 60er-Jahre - sehr darauf bedacht, von den Müllers und Schulzes wahrgenommen zu werden. Auch hatte man keine Berührungsangst vor dem Populären, dem Niedrigen. Etwas drängte in den Expressionisten zum Varieté, zur Schlüpfrigkeit, zum damals noch lebendigen proletarischen Milieu und zur neuen Kunst des Kinos, das sie ebenso wegen seiner leicht verruchten Dunkelheit wie der expressiven Geste der Stummfilme schätzten. Sie waren mediale Multitalente, die ihre Nase scharf im Wind der Zeit hatten.

Gewiss, sie traten als Warner auf, sie schienen überall fratzenhaft Bedrohliches zu wittern, gaben sich todessüchtig, waren leidenschaftlich Individualisten, die einem alles verschlingenden Menschheitspathos huldigten, und waren auf heute kaum noch nachvollziehbare Weise von der Großstadt als Moloch fasziniert wie abgestoßen. Doch deswegen soll man sie nicht zu Seismografen kommender Verhängnisse machen. Ihr Sturm war, am Ende einer großen und prosperierenden Friedenszeit, auch ein Sturm im Wasserglas. Das Gedicht "Weltende" ist Aufschrei und Entwarnung in einem. Die Flut steigt, die Meere hupfen, Dachdecker stürzen ab, Eisenbahnen fallen von den Brücken. Da entsteht eine Puppenwelt, ein hüstelnder Zynismus macht sich breit.

Es ist keine Katastrophe, was da geschieht, es ist ein absurdes Theater, wie aus der Kinderstube inszeniert von einem Knaben, der böse sein will. Am Ende aber passiert eigentlich gar nichts, jedes neue Bild ist das Dementi des vorherigen. Fast etwas Wohliges geht von dem Gedicht aus. Van Hoddis pflegt die Methode des "Simultanismus": Ereignisse, die nicht zusammen passen, werden munter aneinander gereiht. Van Hoddis, der ein neuer Homer werden wollte, begründete diese Methode mit Verweis auf den griechischen Sänger. Wenn dieser Beispiele anführe, dann nicht um zu erklären, sondern um "das Gefühl der Gleichzeitigkeit, der unermesslichen Weltweite zu geben". Doch hier ist die Gleichzeitigkeit nicht Fülle, nicht welthaltig. Karikaturhaft reißt van Hoddis eine Welt auf, die winzig ist und über deren Geschicke man nicht trauern kann. Dieses Ende der Welt ängstigt nicht.

Die Expressionisten fühlten sich als Bewegung, nie zuvor sahen sich so viele Dichter, Maler, Grafiker, Intellektuelle so inbrünstig als Gemeinschaft im Auftrag der Menschheitsrettung. Doch das Kollektiv, das sie für kurze Zeit waren, lief bald auseinander - heraus kamen Sozialisten, Kommunisten, Funktionäre, Weltverbesserer, Jugendbewegte, Zionisten, Lebensreformer und sogar ein paar Liberale. Lauter Einzelne, oft ziemlich einsam. Der einsamste von ihnen war wohl Jakob van Hoddis. Geboren 1887 in Berlin als Hans Davidsohn, wuchs er in einem proletarischen, sozialdemokratischen Viertel der explosiv wachsenden Hauptstadt auf. Schlafgänger, Lumpensammler, Wurstmaxen. Der Vater, Hals-, Nasenohrenarzt und aus Westpreußen stammend, war ein grüblerischer Mensch; die Mutter - zu ihrer Familie gehörte die "schlesische Nachtigall", die belächelte, erfolgreiche Lyrikerin Friedericke Kempner - hielt die sechsköpfige Familie zusammen und setzte dem wissenschaftsgläubigen Materialismus ihres Ehemannes viel großbürgerlichen Idealismus entgegen. Eine schützende, eine schwierige Familie.

Als der Vater Ende 1909 nach längerer Krankheit stirbt, verwandelt der Sohn, unstet schon damals, seinen Nachnamen in van Hoddis - ein Anagramm seines bürgerlichen Namens Hans Davidsohn. Er flieht die Familie, wie er später seine Freunde fliehen, sich mit ihnen überwerfen wird. Er geht mit Aplomb vom Gymnasium, macht anderswo als Externer doch noch Abitur, nachdem er mit seinem Freund Erwin Loewenson einen ersten literarisch-philosophischen Club gegründet hat. Er will Architekt werden, schreibt sich zum Studium der Architektur ein, arbeitet dann aber auf dem Bau - was er aus körperlichen Gründen aufgeben muss. Er wechselt zur Altphilologie, pendelt zwischen Jena, Berlin und München. Und wird ganz schnell ein Star, der sich dessen bewusst ist, der seine Allüren pflegt und von einer Exaltation zur nächsten springt. Ludwig Meidner, der van Hoddis zeichnete, schrieb: "Er war klein von Gestalt, mit kleinem, schwarzgelocktem Kopf und kleinen, sehr nervösen Händen. Sein Gesicht, an sich gar nicht schön, wurde erleuchtet durch feurige und schalkhafte Augen." Oft brachen die beiden vom "Café des Westens" am Kurfürstendamm aus, das der Berliner Volksmund "Café Größenwahn" nannte, nach Mitternacht zu stundenlangen Spaziergängen durch das nächtliche Berlin auf, van Hoddis "wandelte mit seinen Beinen nicht den femininen Ästhetengang, sondern trottete und stampfte den Fahrdamm wie ein Musketier".

Das schönste Porträt aber stammt von seinem Freund Loewenson, der sich später der zionistischen Bewegung anschloss und nach Palästina auswanderte. Dort heißt es: "Im ganzen war er bald wie ein pfiffig-launischer Kobold, ein gefährlicher Berggnom, den seine eigene Zauberkunst aufregt und bedrückt, bald fürstliche Unnahbarkeit ganz und gar, gleich darauf wie ein zärtliches Kind eine fast sentimentale Dankbarkeit andeutend. In großer Gesellschaft war er entweder der schüchternste oder der galanteste Plauderer. In aller Gelassenheit blieb sein Ausdruck immer stoßkräftig, voll geradezu unheimlich-müheloser Wucht."

Eine lange Minute lang glänzte und glühte Jakob van Hoddis auf dem Parkett der Berliner Boheme. Der Erste Weltkrieg hatte noch nicht begonnen, da fing er an, die Freunde zu meiden, seine Familie zu befehden. Er, der wohl keine Mitte fand, isolierte sich immer mehr. Erst galt er als wunderlich, dann merkte die Umwelt, dass er krank war. Es gab keinen Ort mehr für ihn, die Brücke zur Mutter brach er ab. Mal brachte man ihn in psychiatrische Kliniken, mal kam er bei Freunden unter, mal quartierte man ihn im Tübingen Hölderlins bei braven Leuten ein, wo er vor sich hin lebte, mal still-zufrieden, mal aggressiv-aufbegehrend. Als die Nazis die Macht an sich reißen, wandert die Mutter, die ihn immer schützen wollte, nach Palästina aus - schlechten Gewissens und sich wohl bewusst, welchem Schicksal sie ihren armen Sohn da überlassen würde, wie sie in einem erschütternden Brief an ihren Bruder schrieb, den sie zum Vormund einsetzte. Jakob van Hoddis kommt in Sayn am Rhein in den "Israelitischen Kuranstalten der Doktoren Jacoby" unter, der einzig verbliebenen jüdischen Psychiatrie in Deutschland. Eine Ermittlung aus dem Jahre 1958 ergab folgende dürre Mitteilung: "Herr Hans Davidsohn, geb. 16. 5. 87 in Berlin, wurde am 30. 4. 1942 unter der Nr. 8 aus der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn deportiert. Von diesem Transport kam niemand mehr lebend zurück." Jakob van Hoddis wurde im Mai 1942 in Belzec oder Chelmno oder Sobibor ermordet.

Er hat ein ganz schmales Werk hinterlassen, ein paar schöne Gedichte, einige Prosaskizzen, das meiste in den wenigen Jahren zwischen 1909 und 1913 geschrieben, vieles ist verloren gegangen. Ein einziges Gedicht, der Traumtreffer "Weltende", hat ihn übers Jahrhundert hinweg berühmt gemacht. Man kann das Gedicht drehen und wenden, der Urgrund des Katastrophengefühls, das es transportiert, bleibt unerschlossen. Van Hoddis gehörte zu denen, die retten wollten, indem sie zerstörten. Indem sie Formen zerbrachen, Regeln verletzten, Routinen aufgaben, den Alltag verhöhnten. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass dahinter auch eine romantische Sehnsucht nach Form, Schönheit, Ordnung und Harmonie steht. Seit van Hoddis' Zeit wurde die Kunst des Zertrümmerns vielerorts zu einem ästhetischen und politischen Imperativ und zu einem Perpetuum Mobile. Wir haben uns satt daran gesehen und gelesen. War es Befreiung, war es ein hybrider Irrweg oder einfach nur Unfug?

"Weltende" ist uns so vertraut, dass es ganz fremd zurückschaut. Wie "Stille Nacht, heilige Nacht" erzählt es eine Heilsgeschichte. Eine, in der es wackelt und dampft, in der der Bürger aber eher einen runden Kopf hat und die Eisenbahnen doch nicht von den Brücken fallen.

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